Öffnungen
"Ein weiteres Problem aller bildgebenden Verfahren: Was die Bilder genau
zeigen, müssen selbst Mediziner mühsam lernen. Vor allem neue
Techniken wie die Magnetresonanz-Tomographie in den achtziger Jahren, verursachen
zu Anfang erhebliche Interpretatationsprobleme. So leuchten auf den Bildern
plötzlich nie zuvor gesehene Strukturen auf, sogenannte UBOs ("Unidentified
Bright Objects"). Außerdem erzeugen computergestützte Bildgeber
Artefakte - Bildanteile, die keinem Körperteil entsprechen. Als
Ursachen haben die Mediziner schon Fehleinstellung von Geräten, Bewegungen
des Patienten, Zahnfüllungen, aber auch Lidschatten und Tätowierungen
identifiziert." (2)
Hier Unterscheidungsmöglichkeiten zur Diskussion und in Frage zu
stellen - dem möchte sich dieser Text widmen, indem ein "unidentifiziertes
Objekt", das in den letzten Jahren Schlagzeilen gemacht hat, exemplarisch
analysiert wird: die Bildlichkeit des "Visible Human ProjectTM". Wie hier
die "unbekannten Relationen" am Beispiel menschlicher Anatomie sich als
im spezifischen Wortsinn "obszöne" darstellen, sei im Folgenden entwickelt.
UFOs, sogenannte "Unidentified Flying Objects" gehen auf Beobachtungen und Aufzeichnungen zurück, an denen keine Identifikation durchgeführt werden konnte. Die Annahme, daß hierbei Phänomene extraterrestrischer Herkunft ursächlich gewesen sein werden, wird gängigerweise favorisiert. Der hiermit gemachten Unterstellung, daß irdische Phänomene sich durch ihre Identifizierbarkeit auszeichnen müßten, soll in diesen Ausführungen nicht gefolgt werden: Stattdessen wird die Eigenschaft: "Nicht-Identifizierung" fokussiert.
Unter der Voraussetzung allerdings, daß UFOs tatsächlich
Spuren lebender Wesen gewesen sein werden, ergeben sich Fragen - insbesondere
nach der körperlichen Beschaffenheit, der Anatomie eines UFOs. Da
hinsichtlich dieser spezifischen Objekte eine Ununterscheidbarkeit zwischen
einer Lebensform und technologischen Entäußerungen derselben
evident ist, müssen unbekannte Relationen angenommen werden. (1) Fragen
nach diesen Relationen stellen sich typischerweise bei der Auswertung bildlicher
Materialien. Auf dieser Grundlage soll im folgenden das Wagnis einer ebenso
medientheoretischen wie medizinischen Betrachtung eines solchen nicht Identifizierten
unternommen werden. Daß "unbekannte Relationen" auf dem Gebiet
medizinischer bildgebender Verfahren bereits als Problem bekannt sind und
der humanmedizinischen Deutung heikle Aufgaben gestellt haben werden, belegen
folgende Hinweise:
Uns haben in diesem Zusammenhang nur die unidentifizierten Objekte
zu interessieren. Sie sind hell und erscheinen, wie es die Quelle andeutet,
in den Anfangszeiten neuer bildgebender Technologien. Weiterhin kennzeichnend
ist, daß sie etwas "nie zuvor Gesehenes" zu sehen geben. Diese Merkmale
treffen nun - bei näherem Zusehen - nicht nur auf die "nie
zuvor gesehenen Strukturen" innerhalb der Bilder zu, sondern können
strenggenommen für diese Bilder zur Gänze in Anspruch genommen
werden. Das Phänomen der UBOs kann insofern als Anzeiger für
ein grundlegendes Dilemma der Bilddeutung geltend gemacht werden: wie ist
mit bildlichen Zeichen umzugehen, die in der Anfangsphase neuer bildgenerierender
Technologien den Augen zum ersten Mal zugänglich werden? Sie mit den
gleichen Verfahren deuten zu wollen, wie es die jeweils frühere Medientechnik
die Erfahrung gelehrt haben, hieße sie fehlzudeuten. So kann ein
UBO eines Magnetresonanz-Bildes nicht wie einst ein "Schatten" in einer
Röntgenphotographie gelesen werden. Röntgenphotographie und Magnetresonanz-Tomographie
verhalten sich heute beim Auftauchen unidentifizierter Objekte "unbekannt"
zueinander. Wie dunkle und helle Bild-Flecken verschiedener Herkunft? Wie
analoge und computerbasierte Bildtechnologien? Oder wie die verschiebbaren
Werte 0 und 1 der digitalen Differenz?
Enter
Der "Visible Human" ist keine Bildlichkeit, die je zuvor gesehen werden
konnte.
Dies sind Eröffnungen, die in verschiedener Formulierung in fast
jeder Berichterstattung über das "Visible Human ProjectTM" auftauchen.
Es ist die Figur der Negation, die verschiedene Möglichkeiten innehat.
Wie hinter einem Schleier zeichnen sich Formen in der mehrdeutigen Textur
der Negation ab. "Etwas noch nie Gesehenes": das kann heißen, es
handelt sich um neue Bildinhalte oder es meint eine unbekannte Repräsentationsweise
- nach den "Bildern". "Keine Erfindung": Das kann heißen, es
ist eine wissenschaftlich objektive Darstellung oder ein "wahres" Bild.
Etwas "Unsterbliches": hat entweder nie gelebt oder lebt ewig.
Hier gibt es unterschiedliche, zwischen den Bedeutungen taumelnde Varianten,
die mehr oder weniger spektakulär und suggestiv verfahren. Eine beispielhafte
Formulierung bietet folgende Überschrift im populärwissenschaftlichen
Magazin P.M. zum "Visible Human Project": "Die phantastische Schöpfung
des ersten (echten) digitalen Menschens" (6) . Mit einer euphorischen Unentschiedenheit
über Gegenstand oder Repräsentation selbst, werden jeweils im
Namen eines skandalös "Neuen" "Echtheit" und "Leben" in Bewegung versetzt
- und in verschiedenen Anwendungen zur interaktiven Exploration und
Manipulation angeboten.
Entschuldigen muß ich, daß nach dieser flüchtigen Kategorisierung
dessen, was auf der Ebene der journalistischen und wissenschaftlichen "Fakten" unter der Bezeichnung "Visible Human ProjectTM" geführt wird, noch
ein Umweg vorgesehen ist. Zunächst erscheint es noch notwendig, etwas
drumherum zu reden, wie bei einer obszönen Enthüllung. Etwas
Obszönes - im Wortsinn "ob-scenus" - vor, gegenüber oder
außerhalb der Szene. (im Sinne von scaena, lateinisch Bühne).
Und als solches, als "ob scaena", kann das "Visible Human Project" gedacht
werden. Dazu scheint nötig, erst einmal eine Szene, eine Bühne
aufzubauen, um zu einer möglichen Darstellung zu kommen.
Riskant erscheint die Beschäftigung mit Konzept und Bildmaterial
des "Visible Human". Denn viel wurde vorbereitend angekündigt: Nichts
weniger als das Zeigen von Bildern eines "neuen", eines "Daten"-Menschen.
Wer nach solcher Vorbereitung sich Ziffernfolgen, Diagramme, Graphiken
vor dem inneren Auge aufriefe, könnte von der tatsächlichen Konkretion
"bildlich" - eindringend, das "Bildliche" durchdringend - erschreckt
worden sein.
Bereits in der Planungsphase dieses Projekts der National Library of
Medicine (U.S.) wurde dieser "sichtbare Mensch" in knappe Worte gefaßt,
die das Projekt zu der "first digital description of an entire human being" (3)
erklärten. "Ein ganzer Mensch", so lautet konkret der Anspruch, wird
erstmalig auf digitaler Basis zum "sichtbaren Menschen". (4)
Um beschreiben zu können, wie Traditionen medialer Repräsentation
beim "Visible Human Projekt" aufgegriffen und bearbeitet werden, sei vorangestellt,
was der digitale "Visible Human", entsprechend seiner massiven (populär)wissenschaftlichen
Rezeption (5) nicht sei. Tatsächlich lassen sich einige wenige wiederkehrende
Bestimmungen ausmachen.
Der "Visible Human" ist keine Erfindung.
Der "Visible Human" ist nicht sterblich.
Denn alle genannten Anzeichen sprechen dafür, daß es um
die schwierige Darstellung eines Unbekannten geht. Darum lautet meine Eröffnung,
noch im Dunklen bei geschlossenem Vorhang: Das "Visible Human Project"
schreibt eine neue Geschichte der Abbildung - als digitale Transformation
des "Bildes". Die nötige Szene - und eine mögliche visuelle
Vorgeschichte des "Visible Human" soll im folgenden anhand einiger heterogener
Bruchstücke aus Hollywoodfilmen, Musikvideos und medizinischer Visualisierung
konstruiert werden:
Vorbilder
Jeweils wird ein Eindringen in einen unbekannten, "noch nie gesehenen"
Raum inszeniert. Die Assoziation zur sexuellen Erkundung unbekannter Körper
und Körperteile wird durch alte Beispiele des Genres "Herrenfilm"
mit Titeln wie "Wonders of the Unseen World" (1927) befördert. (8) Waren
es in diesen Fällen die weiblichen Genitalien, die die Wunder eines
"noch nie Gesehenen" bieten sollten, so wäre es doch eine kurzschlüssige
Identifizierung die erwähnten Tunnel-Perspektiven schlicht als männliche
Penetrationsphantasien deuten zu wollen. Inwiefern jedoch "Weiblichkeit"
als Problem der Repräsentation - der Identifizierbarkeit -
mit den Wundern einer Welt im Computer und "hinter den Bildern" verknüpft
wäre, dies stellt sich als berechtigte Frage. (9)
Vorerst kann jedoch als Subjekt der Darstellung in den aufgeführten
Film- und Videobeispielen geltend gemacht werden, daß eine Grenze
visuell inszeniert wird, die Grenze des Sichtbaren: als eine, die überschritten
werden soll.
Als ein weiteres gemeinsames Merkmal auf einer spekulativeren Ebene
des Vergleichs kann die Feststellung gelten: In jedem der vier Beispiele
"ging es um Leben und Tod", genauer: um die Grenze dazwischen. "Tron" inszenierte
ein körperloses Weiterleben, "Fantastic Voyage" das Weiterleben mit
einem fast verschwundenen Körper. Der Tunnel-Flug des Musikvideos,
wie z.B. "Destination Planet Dream" (Laurent Garnier, 1994) kann als Bestandteil
einer visuell unterstützten Ekstasetechnik gelten, die mithilfe der
Bilder ein "Hinaustreten" aus dem normalen Bewußtseinszustand erreichen
will, vielfach als Ablösung vom Körper visioniert. Die aktuelle
wissenschaftliche Seite des persistierenden "Tunnel-Motivs" zeigt sich
in "Professor Roentgen Meets the Virtual Body" mit erstaunlicher Ähnlichkeit
zu dem computererzeugten Musikvideo an Visualisierungen von Organen eines
lebenden Körpers. Das visuelle Eindringen in einen errechneten "Virtual
Body" erlaubt aus potentiell allsehender Perspektive Einblicke in ein Körperinneres,
wie sie auf dem Operationstisch oder im Seziersaal beim Eröffnen der
Körper, selbst durch das Einführen endoskopischer Kameras nicht
möglich wären.
Wäre es auch möglich zu sagen, die Bilder handelten jeweils
von einer neuen "Szene", die im hypnotisierenden Sog der visuellen "Tunnel-Fahrten" oder "-Flüge" bedeutet werden soll: Auf- und Abgänge wie Geburt
oder Tod? Deren vertrauteste Bildlichkeiten im Sinne der Darstellung eines
Durch- oder Übergangs in ein "Anderes" sind nicht zufällig mit
der Vorstellung eines "Tunnels" verbunden: Wer imaginiert durch einen "Geburtskanal"
das "Licht der Welt erblickt" zu haben, mag sich auch die Erfahrung des
nahenden Todes als Erblicken eines fernen, sich nähernden Lichts -
als bildlichen "Tunnel" - gestalten. So sei die Behauptung angeschlossen,
daß es in den vier gewählten visuellen Beispielen stets um eines
ging: um Ob-szönitäten, Überschreitungen von Szenen -
zu "anderen" Szenen. Um in Bewegungsbildern (vom Film bis zur Computeranimation)
ein Außerhalb des Sichtbaren anzuzeigen, insbesondere um Auflösungen
und Neubestimmungen von Bildern und Worten darstellbar zu machen, scheint
ein symbolisches Durchstoßen der zweidimensionalen Bildebene -
in eine vermeintliche Tiefe "hinein" - symptomatisch wiederzukehren.
An Beispielen von Datenbearbeitungen des "Visible Human Project" läßt
sich ein Zusammenhang zu den bereits aufgerufenen Bild- und Vorstellungselementen
entfalten, - Unsicherheiten, Faszinationen und Verwechslungen, die
sich beim Prozeß medialer Wandlung ergeben, insbesondere beim Übergang
zum digitalen Medium.
Im Film der Walt Disney Pictures "Tron" (U.S. 1982, Regie Steven Lisberger)
ist es zukünftigen Wissenschaftlern möglich Objekte in der Weise
zu digitalisieren, daß sie aus der materiellen Welt verschwinden
und nur noch in digitaler Form existieren. Auch eine Rückverwandlung
in die materielle Form ist möglich. Verbildlicht wird eine solche
"Matter Transform Sequence" zunächst am Beispiel einer Orange. Diese
wird in "ihre Information" verwandelt, im Computer geladen und auch wieder
"ausgespeichert", d.h. in die ursprüngliche materielle Form zurückverwandelt.
Eine Laserkanone scannt und absorbiert die Molekülstruktur eines Objekts,
und zwar im zweiten Schritt die eines lebenden Menschen, dessen folgende
Abenteuer als "transformierte Materie" den Stoff der Filmhandlung ergeben.
Als Informationsmuster in menschlicher Gestalt - wie eine Figur eines
Computerspiels - existiert der Charakter weiter. Behauptet und visuell
umgesetzt wird ein restloser Übergang eines Menschen "in den Computer".
Dargestellt wird solche Digitalisierung des Helden in spektakulären
Tricksequenzen als abstrakte Animation eines rasenden "Fluges" in die "Tiefen"
des Computers hinein.
Sehr ähnlich verfahren andere kontinuierliche schnelle Bewegungen
in die Tiefe von Bildern hinein: Vertraut sind die unzähligen Tunnelfahrten
oder -flüge, wie sie computererzeugte Musikvideos der 90er Jahre repetetiv
einsetzten.
Aufrufen möchte ich hierzu den Film "Fantastic Voyage" (U.S. 1966,
Regie Richard Fleischer). Hier geht es um das Eindringen in den menschlichen
Körper und darum, das zu überleben. Mit Computerhilfe miniaturisierte
Wissenschaftler in einem U- Boot werden in die Blutbahn eines Patienten
gespritzt, um ein Blutgerinsel im Gehirn zu behandeln. Die Rechenzentrale
dieser Operation entspricht derjenigen eines Raketenabschusses. Im Vorspann
werden die zukünftige Mondlandung und die Expedition ins Körperinnere
visuell als Analogien dargestellt. "To make a motion picture that crosses
a new frontier may seem impossible today. Not outer space nor the future
- its into the body." (7) Beide Räume gelten in der Logik des Films
als unenthüllte Reservoire von Sichtbarkeiten, die mithilfe von Computertechnologie
erschlossen werden. Insofern ist die Durchdringung des "Outer" und des
"Inner Space" in der Durchquerung der Körpergrenze von Außen
und Innen und der Durchdringung der Dimensionen durchgeführt: das
"natürliche" menschliche Maß erscheint als riesige höhlenartige
Landschaft, die erkundet wird. Es verspricht die dynamische Kommentarstimme
des Kino-Trailers von 1966 darum kaum zu viel: "You are going where no
man or camera has ventured before." Was es mit diesem "You" auf sich hat,
das wird allerdings zu einer Frage, denn: "And when you come out you may
never look at yourself in the same way again."
Diese Vermutung könnte auch auf das Video "Professor Roentgen
meets the virtual body" angewendet werden, 1995 vom Institut für Mathematik
und Datenverarbeitung in der Medizin an der Universität Hamburg hergestellt.
Ein Abschnitt trägt den Zwischentitel "Journey through cerebral vessels".
Auf dieser wissenschaftlichen Reise durch die Blutgefäße des
Gehirns, werden neuartige 3d-Bilder vorgestellt, wie sie z.B. aus Computertomogrammen
berechnet werden. Die Perspektive einer Fahrt durch eine Arterie des Gehirns
entspricht der, die bereits die miniaturisierten Wissenschaftler der "Fantastic
Voyage" innehatten. Der Kommentar zu diesen Bildern formuliert solche fiktionale
Betrachterperspektive folgendermaßen: "But we can also put ourselves
onto the tip of a catheter and view the vessel from inside." und: "Its
morphology may be accesed from any direction."
Für eine Grenzüberschreitung, bei der die Strecke des Sichtbaren
nicht bloß verlängert, sondern ein Unsichtbares visuell konstruiert
werden soll, spricht, daß ein ähnliches Motiv, in Verbindung
mit einer typischen Bewegung persistiert. Es handelt sich jeweils um eine
zentrale Bewegung des Kamerapunktes in die Tiefe des Bildes, wie in einen
Tunnel hinein. Als hätte der Betrachter die Blick-Position eines "Fliegenden
Objekts" inne, das sich in die Tiefe des eröffneten Bildes bewegt.
Grundlage dieser Vorstöße in die vielen visuellen "Tunnel" sind
jedesmal Computerberechnungen, sei es auf der Ebene der Spielfilm-Narration
oder als medientechnische Basis der Bilderzeugung selbst.
"A Digital Image Library"
Zu fragen wäre hier mit Blick auf das "Bild" in einer solchen digitalen
"Image Library": Welche neuen Eigenschaften haben diese "Bilder"? Wo hört
das "Bild" auf und wo fängt der "Text" an? Oder: Sind das noch "Bilder",
um die es hier geht?
Das Ziel der "Image Library", auf biomedizinischem Gebiet ein universelles
und vereinheitlichtes neuartiges bildliches Wissen über den "Menschen"
bereitzustellen, stellt als alte Forderung - spätestens seit der
Renaissance - doch eine neue Aufgabe dar. Und zwar insofern dies "Wissen"
über den "Menschen" - mit der Bezeichnung "Health Information"
- in einem neuen Medienformat als Datenorganisation und -manipulation
aufgefaßt wird. Dabei wird dem neuen digitalen "Abbild", eine größere
Vollständigkeit, Nähe oder gar Identität zum "Abgebildeten"
zugetraut: Identifizierbarkeit. Eine sprachliche und medientechnische Transformation
größten Ausmaßes ist in dem so formulierten Projekt der
National Library of Medicine angezeigt: nämlich des "Wissens", der
"Worte", der "Bilder" und des "Menschen" selbst. Bezweifelt darf jedoch
werden, ob die Implikationen solcher Transformation von den Auftraggebern
mitgedacht worden sind.
Als technologisch vorauseilend muß der Plan der National Library
of Medicine bezeichnet werden, in der Mitte der 80er Jahre bereits die
Entwicklung einer Datenbank eingeleitet zu haben, die die analogen anatomischen
Atlanten wenn noch nicht ersetzen, so doch bereits auf neue Art ergänzen
soll. Daß diese organisatorische Basis des "Visible Human Project"
zunächst unspektakulär eine direkte Übertragung der Funktionen
analoger Medien vorsieht, kann kaum darüber hinwegtäuschen, daß
hier eine Umstellung größten Ausmaßes initiiert wurde,
die weit über den technischen Bereich hinauswirkt und eine umfassende
kulturelle Umstellung betrifft. Die National Library of Medicine formuliert
es so:
"The Visible Human Project has its roots in a 1986 long-range planning
effort of the National Library of Medicine (NLM). It foresaw a coming era
where NLM's bibliographic and factual database services would be complemented
by libraries of digital images, distributed over high speed computer networks
and by high capacity physical media. (...)Early in 1989, under the direction
of the Board of Regents, an ad hoc planning panel was convened and made
the following recommendation: íNLM should undertake a first project building
a digital image library of volumetric data representing a complete, normal
adult male and female. This Visible Human Project will include digitized
photographic images from cryosectioning, digital images derived from computerized
tomography and digital magnetic resonance images of cadavers.'" (10)
"A complete, normal" image?
Weiter zu den Fakten: An einer männlichen und einer weiblichen
Leiche - "a complete, normal adult, male and female" - wurde diese
Prozedur bereits durchgeführt. Als digitaler "Adam" und als digitale
"Eva": als neue Menschen gefeiert, verkünden TV- und Printmedien bereits
die im Computer gespeicherten einzelnen digitalisierten Photographien als
Beginn einer neuen digitalen Ära des Menschen. Eine angeblich komplette
Sichtbarkeit, die Idee einer Verfügbarkeit und Veränderbarkeit
des Datenmaterials werden als Garanten für zukünftigen medizinischen
Nutzen genommen. Die verarbeiteten Leichen, die "complete, normal adult(s)
male and female", deren behauptete "Vollständigkeit" der Aufzeichnung
sich stark unterscheidet, insofern die weibliche Leiche in dreimal dünnere
Schichten geschnitten wurde, werden auf paradoxale Art als vollständige,
normale "Bilder" rezipiert: "Bilder", die so vollständig wären,
daß sie keine Bilder im herkömmlichen Sinne mehr sein könnten,
sondern durch die als "normal" deklarierten Abgebildten ein neues Modell
des "Menschen" darzustellen in der Lage sein sollen. Die Ironie eines derartigen
Glaubens an die "Information" besteht nun darin, daß der einzige
bildtechnische Vorteil materiell durchgeführter Schnitte bei der Datengewinnung
in einer hochauflösenden Bildqualität mit einem "realistischen"
Eindruck des Körperinneren durch die Photographie besteht. Denn im
Gegensatz zu Röntgen-, Ultraschall oder Magnet-resonanz Verfahren
werden so auch Farben aufgezeichnet. Datenmengen von bis zu 40 Gigabyte
bestimmen diesen "neuen Menschen": bunte digitale Serienschnittphotographien.
Die materielle Basis des "Visible Human" bildet das faktische Zerschneiden
einer Leiche, das- auch wenn es mit einer computergesteuerten Schnittanlage
besorgt wird - die Datengewinnung im "Informationszeitalter" der Medizin
am Beispiel materieller Zerstörung inszeniert, einer physischen Desintegration,
die den Körper zu geringen Quantitäten organischer Reste der
Bildflächen abbaut, die in Auffangbecken zu formlosen Materialhaufen
schmelzen.
Denn spektakulärer als es die knappen, faktischen Beschreibungen
suggerierten, hat nun das erste Projekt auf dem Weg zu einer solchen digitalen
"Image Library" seinen Auftritt in der wissenschaftlichen und Medienöffentlichkeit
genommen. Nämlich gerade dies ist das "Visible Human ProjectTM". Wie wurde vorgegangen?
Für diese neuartige Beschreibung des "sichtbaren Menschen" sollten
zunächst Volumendaten eines "complete, normal adult" erfaßt
werden, und zwar im wesentlichen durch digitalisierte photographische Querschnittsbilder
menschlicher Leichen, ergänzt durch eine Anzahl computertomographischer
und Magnetresonanz-Bilder. Das Erstaunliche und eigentlich Spektakuläre
ist nun die Verwendung von Leichen und Photographie, um in das digitale
Zeitalter des Bildes einzutreten. Das ist neu.
Wenn photographiert wird, muß das Innere des Körpers durch
Messer, durch Aufschneiden sichtbar gemacht werden; Schicht für Schicht
muß der Körper von Kopf bis zu den Füßen in immer
neue Schnittflächen abgehobelt werden, Photo für Photo weitere
Gewebeschichten freigelegt und zerstört werden, bis mit Beendigung
der Bilderserie vom menschlichen Körper nur noch gefrorene Hobelspäne
im Submillimeterbereich übrigbleiben.
Im Internet finden sich dazu Texte von Wissenschaftlern, die die photorealistische
Erscheinung der Daten enthusiastisch als überwältigendes Erlebnis
beschreiben, als einen Vorgang "revealing slice-by-slice the beauty and
detail within" (11) . Ob ein derartiger Ausruf auch beim direkten Blick auf
die Schnittflächen der Leiche ausgelöst worden wäre? Wohl
nicht, da die Kommentare sich in technischen Details ergehen. Eine Überschreitung
formuliert sich hier im Wechsel des sachlichen Tonfalls zu einem anderen
Register.
Anschaulichkeit
Jedoch - als Verschmelzung von Mensch und Computer, verbunden mit
der Vorstellung, der Leichnam "lebte" entmaterialisiert als Datenmenge
im Computer weiter, wurden bereits die ersten zweidimensionalen, als filmische
Animation präsentierten Photoserien der digitalisierten Leichenschnitte
in den Medien besprochen. (12) Eine Fetischisierung der Informationsmenge,
die in immer wiederholten Mengen- und Maßangaben des Projekts in
Erscheinung tritt, verstärkt das Phantasma einer restlosen, vollständigen
Übertragung eines Menschen "in den Computer". Hier assoziiert sich
als konsequente Komplettierung des Gedankens ein Motiv aus Science Fiction-Filmen,
wie z.B. "Tron", nämlich zudem eine mögliche Rückkehr solcher
phantasmatisch "vollständiger" Datensätze in die körperliche
Form biologischer Existenz. Wird so die Identität eines Menschen als
erfaßbare Information auf verschiedenen materiellen Trägern
- gewissermaßen carbon- oder siliciumbasierten Speichermedien
- imaginiert, so verschalten "Matter Transform Sequences" beliebig
Zeiten, Räume, Leben und Tod. Ist so das Faszinosum, das diese neuartigen
Bilder in der Narration vom getöteten und wiederbelebten Mörder
zu besetzen scheinen zu erklären? Hier muß noch anderes im Spiel
sein.
Vermeintlich anschaulich kann am "Visible Human Project" noch beschrieben
und gezeigt werden, was in Worten und Bildern kaum vorstellbar zu machen
ist: die Veränderungen des "Bildes",