'Lebende Bilder' aus dem Computer

Konstruktionen ihrer Mediengeschichte

Claudia Reiche

Schriftbild
    Das lebende Bild
    Abb. 1:  Kino-Theater 1903, "Neueste Filme. Beste Apparate"

    Karl Knübbels "KinoTheater" hatte "wöchentlich zweimal neues Programm", was auf der alten Photographie noch zu entziffern ist. (Abb. 1) "Das lebende Bild", das müssen wechselnde Bilder in mehrfacher Hinsicht gewesen sein und nicht ein einzelnes – wie eine Photographie [1]. Dennoch ist als Firmenname und als Bezeichnung der neuen Medientechnik, um die es in diesem Berliner Etablissement am Anfang des Jahrhunderts gegangen ist, der Terminus "Das lebende Bild" gewählt. Als ein einzelnes Bild, das wie durch ein Wunder mit 'Leben' begabt sei, erscheint hier die Filmtechnik in der Sprache. In diesem Fall, in der Vergrößerung als Ladenschild, zeigt sich der Name seitlich flankiert, typographisch getragen von den großen Anführungszeichen. Das fällt auf.
    Noch ein Blick auf die photographierte Schrift:
    "Das lebende Bild". –
    Was kann das sein?

 

Tableau vivant
    Die Anführungszeichen markieren diesen Terminus als Zitat. Historisch taucht das Genre der 'lebenden Bilder', französisch tableaux vivants, zunächst als Mode gebildeter Stände vermehrt um 1800 auf – als "Darstellungen von Werken der Malerei und Plastik durch lebende Personen" [2]. Daß bei einer nachträglichen Darstellung bekannter Kompositionen Beachtung vor allem dem zeitlichen Moment zukam, belegen technische Hinweise zum Verhältnis von Bewegung und Stillstand. Der Lexikoneintrag aus Meyers Konversationslexikon von 1890 zum Stichwort 'lebendes Bild' läßt seine ausführliche historische Beschreibung in praktische Anweisungen münden: "Während der Dauer der Schaustellung eines Bildes ist die richtige unbewegliche Beleuchtung des Hauptpunktes genau zu beachten." [3] Es werden technische Anforderungen genannt, die in einer leichten Verschiebung auch für eine Portrait oder Gruppenaufnahme in einem Photoatelier geltend gemacht werden konnten. Denn die Ähnlichkeit der Szenen – das unbewegliche Posieren im Licht, bis die Belichtungszeit der photographischen Platte erreicht war oder die Zeit der Betrachtung für das Publikum abgelaufen war – tritt im historischen Vergleich vor Augen. Als ginge es bereits um die Erfordernisse der erst zu erfindenden Medientechnik Photographie präsentierten sich die Darstellenden eines 'lebenden Bildes' wie in einem Photoatelier, posierten unbeweglich und theatralisch beleuchtet für die jeweilige "Dauer der Schaustellung". Der zunächst unscheinbaren Zeitstelle, dem Moment, an dem das 'Bild' beendet wird, soll hier die Aufmerksamkeit gelten, als Markierung einer bestimmten Operation in der Zeit, die erst unter den neuen Voraussetzungen der Medientechnik Photographie mit ihren ganzen Möglichkeiten hervortreten wird.

 

Photographie

    Das medientechnisch induzierte Ende einer Pose im Photoatelier zeigt sich durch das Geräusch des photographischen Blendenverschlusses an. Dieser mechanisierte Moment des Schließens kann nachträglich Aufschluß geben auch über die Zeitlichkeit des 'lebenden Bildes'. Wenn sich das 'lebende Bild' in der Betrachtung erzeugt, als Kunst eines angehaltenen und gedehnten Augenblicks, dann entsteht das spezifische 'Leben' einer gelungenen Komposition erst im Moment des Abschieds von dem Erblickten, die bei günstig terminierten Endpunkt – bereits auf der Schwelle zur Erinnerung – sich vervollkommnen kann. Gegenüber einem effektvollen BildEntzug, zielt die photographische Aufzeichnung mit anderen Mitteln auf eine Unterbrechung der Zeit. Herausgeschnitten aus dem Fluß der Zeit, festgehalten und sichtbar verewigt werden soll ein Augenblick im vielfachen Abzug. Im photographischen Dokument manifestiert sich ein Eingriff, den Walter Benjamin als "posthumen Chock" formulierte:

    Unter den unzähligen Gebärden des Schaltens, Einwerfens, Abdrückens usf. wurde das 'Knipsen' des Photographen besonders folgenreich. Ein Fingerdruck genügte, um ein Ereignis für eine unbegrenzte Zeit festzuhalten. Der Apparat erteilte dem Augenblick sozusagen einen posthumen Chock. [4]
    Mit Sigmund Freud, insbesondere dessen Aufsatz "Jenseits des Lustprinzips", entwirft Benjamin diesen Chock als starke Reizwirkung auf Bereiche des Nervensystems, die im Moment des auslösenden Ereignisses schutzlos gewesen sind. Wenn nun der Chock als "Hinterlassung einer Gedächtnisspur" in einem kurzfristig ungeschützten, sensiblen System funktioniert, so fällt als ein allgemeiner Topos der Vergleich mit dem Vorgang der photographischen Belichtung ein, dem kurzen Auslösen des schützenden Blendenverschlusses, in dem das photosensible Material dem Licht ausgesetzt wird. Benjamin wählt eine Formulierung aus Freuds "Jenseits des Lustprinzips", die diesen Vergleich tatsächlich nahelegt. Freud stellt die Rindenschicht des Gehirns, in dem er die Funktion des Bewußtseins lokalisiert, als eine "Rinde" dar, "die ... durch die Reizwirkung so durchgeannt ist, daß sie der Reizaufnahme die günstigsten Verhältnisse entgegenbringt." [5]

    "Durchbrennen" können elektrische Leitungen bei einem Kurzschluß unter Entwicklung von Wärme und Lichtfunken. Die Logik des technischen Vergleichs legt nahe, daß im Moment eines Chocks die elektrischen Potentiale der Nervenreize das reizaufnehmende, schützende Bewußtsein selbst durchdringen, um ihre Spuren in das Gedächtnis wie in eine photographische Platte einzuschreiben. Denn:

    Die Grundformel dieser Hypothese ist, 'daß Bewußtwerden und die Hinterlassung einer Gedächtnisspur für dasselbe System miteinander unverträglich sind'. Erinnerungsreste sind vielmehr 'oft am stärksten und haltbarsten, wenn der sie zurücklassende Vorgang niemals zum Bewußtsein gekommen ist'. [6]

    Benjamins "posthumer Chock", den der Photoapparat "dem Augenblick" erteilte, stellt zudem eine Vergleichbarkeit in Hinblick auf die zeitliche Struktur von Chock und photographischer Momentaufnahme her. Als beiden gemeinsam erweist sich eine spezifische Form von Nachträglichkeit. Es sind in beiden Fällen wiederholte, langfristige Effekte einer kurzen, prägenden Einwirkung, die selbst nicht unmittelbar zugänglich ist.

    Die wiederkehrenden, traumatischen Folgen eines Chocks können mit den vervielfältigten, wiederholten Abzügen eines photographischen Negativs verglichen werden. Und das hieße, daß entgegen geläufiger Überzeugung die Erinnerung an einen bestimmten Moment, die von einem Photo erwartet wird, ebenso unmöglich ist wie die Erinnerung an das, was eine Gedächtnisspur hinterließ.

    Denn das, was zum Bewußtsein kommt, ist etwas anderes, mögliches Zeichen für eine NichtÜbereinstimmung von Gedächtnisspur und bewußter Erinnerung. Das abseitige Genre der Geisterphotographie ist unter diesem Blickwinkel als Reflex des skizzierten Verhältnisses zwischen psychischem und photographischem Apparat anzusehen, als Inszenierung und Bebilderung einer unmöglichen Präsenz in phototechnischer und organischer Gedächtnisfunktion. Stellvertretend und auf photographischem Wege aus der Zeit herausgelöst wurden künstliche, gestellte 'Präsenzen': all jene Wiedergänger, Phantome, Geister und Gespenster, die sich "posthum" und medientechnisch neu beheimatet fanden in den Zwischenräumen von Vergangenheit und Zukunft, zwischen Einmaligkeit und Vervielfältigung, zwischen Leben und Tod. [7]

    Wenn die 'lebenden Bilder' nun in ihren bewegungslosen, stumm dargebotenen Posen eine Ähnlichkeit zur Photographie aufweisen, so betrifft der Vergleich gerade diese Zwischenräume. Angehalten wird für die Dauer einer Pose, eines 'Bildes', in einer suspendierten Zeit die